Rezension des Tagesboten Brünn

Dr. P. H. Vorlesung Karl Kraus. Es kam so wie im verflossenen Jahre, als er zum ersten Male in Brünn las. Wer zum ersten Male hinging in Erwartung eines literarischen Ereignisses, der kam zurück von einem persönlichen Erlebnisse. Das ist kein Vorlesertisch, kein Vortragspodium. Es ist eine Bühne, auf der der Autor uns seine Werke vorspielt. Darum die spanische Wand, das Fehlen der üblichen Wasserflasche, die Verdunkelung des Saales — bühnenmäßige Technik. Das Organ des Künstlers ist bewunderungswürdig. Alle Laute des Lebens scheint sein Ohr erlauscht, sein Gedächtnis registriert zu haben. Alle Töne — das Kreischen des schachernden Händlers, der dumpfe Bierbaß eines Wiener Pülchers, das Säuseln des reichsdeutschen Ästheten, der monotone Ruf des französischen Zeitungsverkäufers, der entsetzte Schrei: »Feuer!« — scheint diese Stimme zu beherrschen, jede Möglichkeit des Ausdrucks scheint diese Sprache zu kennen. Die linke Hand hängt herab, die Rechte liegt zitternd auf der Stuhllehne und lauert auf den Augenblick, in welchem sie tätig teilnehmen kann an der Verkörperung eines Gedankens. Dann greift sie würgend nach der Kehle des Feindes, rüttelt an den morschen Fundamenten unserer Scheinkultur, wirbelt die lächerlichen Erscheinungen des Lebens durcheinander. In solchen Momenten muß man erkennen, daß in diesen Schöpfungen Gedanke und Anschauung, Bild und Wort eines sind. Daß diese Darstellung den Gipfel der Ausdrucksmöglichkeit erreicht, den einzig möglichen und endgültigen Ausdruck gefunden hat. Bei der Lektüre kann man’s übersehen, beim Vortrage aber wird es jedem klar, daß Karl Kraus vor allem Künstler ist, nicht Satiriker. Karl Kraus las ein völlig anderes Programm als im Vorjahre. Diesmal kamen die Satiren: Von den Gesichtern, Die Malerischen, Reformen, Das Erdbeben, sämtliche aus dem Buche: Die chinesische Mauer, sowie die in der ‚Fackel‘ erschienene Satire: Der Traum ein Wiener Leben, ferner zahlreiche Glossen und Aphorismen zum Vortrage. Die Vorlesung dauerte volle drei Stunden. Trotzdem wurde Karl Kraus durch tosenden Beifall zu einer letzten Zugabe gezwungen und las die Glosse: Der Grubenhund, die inzwischen in der ‚Fackel‘ erschien. Bei der Vorlesung der Zuschrift des Dr. Ing. Erich Ritter v. Winkler brach ein derartiger Lachsturm los, daß sogar der Vorleser angesteckt wurde und mehrmals unterbrechen mußte. — Hoffentlich bestätigt sich das Gerücht, die Neue akademische Vereinigung, der wir für diesen Abend großen Dank schuldig sind, werde uns Karl Kraus noch in dieser Saison als Vorleser fremder Werke (Liliencron, Wedekind, Peter Altenberg und andere) an einem Autorenabend hören lassen.

[Tagesbote Brünn, 25.11.1911, zitiert in: Die Fackel 339-340, 30.12.1911, 23] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

 

Signatur: 
L-137743
Datum: 
25.11.1911