Rezension des Volksfreund Brünn

Karl Kraus, der Herausgeber der ‚Fackel‘, las in der Vorwoche in der »Neuen akademischen Vereinigung«. Karl Kraus — er selbst dürfte es vielleicht übel vermerken — ist ein Programm. Ein Programm, das keine Anhänger werben will und dem man sich dennoch in vielen Punkten willig ergibt. Man mag zu seinen paradoxen Anschauungen stehen wie man will, — wenn dieser Wiener nichts anderes geleistet hätte, als daß er ein paar papierene Götzen ins Wanken gebracht, daß den vielen des »Publikums«, die sonst die verschnörkelten Oberflächenweisheiten anerkannter Meinungserzeuger nur mit heiligem Schauer zu genießen wagten, nun mitten im Satze plötzlich der Name — oder Begriff — Kraus einfällt, wenn er nicht mehr erreicht hätte, als daß den Normalleser unwillkürlich ein kritisches Empfinden überfällt, es wäre allein schon ein Verdienst von höchst aktueller Bedeutung. Wer aber Kraus’ Entwicklung verfolgt hat, wird mit Staunen merken, wie sich dieser spöttische Ironiker des Tages zu einer Weltanschauung voll tiefem Ernst und liebevollem Ingrimm durchgerungen hat. Eine Auffassung des Seins, die, weil sie aus der Umgebung doch nicht herauskann, sich auf die eigene Persönlichkeit zurückzieht. Sie spricht sich vor allem in seinen Aphorismen aus, die man mit der Zeit schon noch werten lernen wird, und von denen Kraus einige vorlas. Er hätte sie nicht lesen sollen. Denn um an ihnen die völlige geistige Indifferenz der Zuhörer zu erproben, dazu sind sie denn doch zu gut. Die köstliche Satire »Der Biberpelz«, das groteske Phantasiestück »Die Welt der Plakate«, »Das Ehrenkreuz«, die wirkungsvolle Auspeitschung der öffentlichen, gesetzlich fixierten Toleranz, die in jedem Belange nach dem »Büchel« vorgeht, folgten. Den Abschluß bildete »Die chinesische Mauer«, eine Phantasie, die anknüpfend an die Ermordung der Elsie Siegl in New-York durch einen chinesischen Kellner, in Worten von geradezu monumentaler Wucht eine Götterdämmerung der christlichen Ethik malt. Man muß das vom Verfasser selbst lesen hören, um die Kraft dieser Schilderung unmittelbar zu fühlen. Wie Kraus liest? Mit allen Techniken des Rezitators und mit allen Nerven. Und man ist erstaunt, wie dieser rechte Schreibestoff plötzlich noch einmal auflebt im Zusammentreffen des adäquatesten Ausdrucks für die feinste Empfindung. Daran erweist sich der virtuose Beherrscher der Sprache. Wer die Vorlesung mit angehört, wird das Gehörte als dauernden Wert behalten. Dr. R. F.

[Volksfreund, zitiert in: Die Fackel 315-316, 26.01.1911, 55-56] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Signatur: 
L-137743
Datum: 
27.12.1910