Rezension des Vorwärts

Karl Kraus las aus seinen Dichtungen an zwei Abenden für die hungernden Wiener Kinder. Gestern im Meistersaal. Vor einer dichtgedrängten Masse. Und es gehört zum Bilde, zu sagen, daß sie ganz aus den jungen Lebensaltern bestand. Also: die Generationen der nächsten Zukunft drängen sich nach seinem Wort. Und dies Wort ist Sonnewollen und Frühlingsbegehren, und es ist Bruch mit dem, was gestern übermächtig war, auffliegender Helldrang und schonungslos richtender, hinrichtender Bruch. Also der Karl Kraus von heute, wie ihn das überbarbarische Ungetüm Weltkrieg anfallend erweckt hat, ein Erzeugnis des Widerstandes zur Selbstbehauptung, der ihn hinauswandelte über die geistige Art von vordem. Der Pessimist, dem die breite menschliche Masse verächtlich war, weil sie aus sich selbst nicht hinauskam über Nichtigkeit, ist zum menschheitentflammten Rächer und Schützer geworden, und aus diesem Geiste wirkte er auch gestern im Meistersaal. Inmitten der Vortragsfolge gab es eine lyrische Gruppe, in der tönend emporgreifender Lichtdrang übersprang in sich aufbäumenden, gottverklagenden Schrei: ein Kämpfer, das furchtbare Ganze der Kriegsschrecken beherrschend im Geiste, packt mit erwürgender Gewalt die Henkerkultur der Mordjahre. Und der kräftige Beifallsgruß, den der Frühlingswille löste, wuchs nach den Anklageschlägen zu Beifallsgebraus. Dann aber kam die äußerste Steigerung des Abends: der Vortrag des Schlußakts des dramatisch aufrollenden Kriegszeitgemäldes: »Die letzten Tage der Menschheit«. Ein Weltgedränge von Gesichten des Krieges! Geschnitten mit den Messern empörter Satire.
Im Dienst der Wahrheit, die zu Gericht sitzt über ein wahnsinnig Menschenblut verwirtschaftendes Gewaltpack von hohlbrutalen Nichtsen!

»Weltgericht« heißt das Doppelbuch, in dem K. zusammengestellt hat, was er während des Krieges in seiner »Fackel« schrieb. In seinem dramatischen Gemälde faßt Künstlerkraft den Inhalt dieses dokumentarischen Buchs keulender Satire zusammen. Um Mißverständnisse zu verhindern, teilte K. mit, daß seine Szenen während des Krieges entstanden sind. Ein Saufgelage der Offiziere im Saal eines Korpskommandos, eine Tummelstunde hirnloser Kriegsphrasen, ein Wettjagen von Zynismus, Borniertheit, Aufgeblasenheit. Es ist während der Schlacht, die sich allmählich zum feindlichen Durchbruch entwickelt. Als die Katastrophe vollkommen ist, wird der Hintergrund der Szene, das riesige Wandbild »Die große Zeit«, zu einer Flucht von Bildern, in der alle Furchtbarkeiten kriegerischer Menschenverwüstung vorüberhetzen. Szene schnell hinter Szene, kurze, kürzeste Takte des Grauens, jähe, erbarmungslos wahre Würfe, ein Kaleidoskop des Entsetzens, ein Index aller Formen der ungeheuersten Mordschuld, mit der eine fallreife Gesellschaft ihr Ende besiegelte. Eine Szene nennt den Kronprinzen, vor dem bei einer Truppenbesichtigung Flammenwerfer ein W in die Luft zeichnen; als der Dichter dabei symbolisch vom großen Weh der Zeit spricht, schrillt von der Tür her ein Pfiff durch den Saal; es gibt Lärm gegen den Pfeifer, lautes Händeklatschen für K. und der Störer, der sich deutsch entrüstet, wird aus der Tür gedrängt. Nach der vollen Stunde des Aktvortrags, einer stärksten Stunde, mischt sich in die mächtigen Ovationen für K. abermals die Schrillpfeife, und nun werden zwei alldeutsche Bürschlein, während im Saal Beifall ohne Ende stürmt, draußen nach Verdienst behandelt: ein paar handfeste Stöße befördern sie die Treppe hinunter. Sie hatten keinen Anhang gefunden. Die Anklage, die Karl Kraus, allen landläufigen Pazifismus mit wuchtiger Größe des Kämpfens überflügelnd, geschmiedet, riß alles auf ihre Seite. Aus erschüttertem
Geiste tiefster Menschlichkeit geboren, in erschütterndem Vortrag hineingeschleudert in die dichte Hörerschaft, gab sie Gewaltiges, wie es gegeben werden muß, wenn für die immer noch in Masse niedergemäht sinkenden Opfer bis zur verbrecherischen Gewissenlosigkeit verfaulter Staatsgewalten um Hilfe geworben wird. zd.

[Vorwärts, zitiert in: Die Fackel 531-543, 04.1920, 25-27] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Datum: 
22.01.1920