Rezension des Vorwärts

Karl Krauß, der im überfüllten Bechsteinsaal las und den ganzen Abend lang bejubelt wurde, hat so überaus recht, wenn er behauptet, man müsse Tag für Tag in das vergeßliche Gehirn die Erinnerung an all das Elend, an all die Grausamkeit und Roheit des Krieges kneten, damit denen, die schon erneut sich anmaßenden Ton gestatten, ihr Treiben vorgehalten wird. Und es ist ja auch gewiß recht, daß über allen Wirren des Tages »das Lied der großen Zeit« schon fast aus dem Gedächtnis schwand, so daß nur noch ein verblaßtes gutmütiges Rückschauen vorhanden ist. Aber trotzdem Krauß doch auch gewiß derjenige ist, der die Berechtigung hat, Anklage und Spott hinauszurufen, weil er von Anbeginn die Sinnlosigkeit und das Unsittliche des Krieges verwarf, so wurde der Abend doch nicht zu dem, was man einen ethischen Verzweiflungsschrei nennen könnte. Hieran trugen das begeisterte Publikum und Karl Krauß gleichermaßen die Schuld.
Jeder weiß, daß Krauß noch im Hohn voll tiefer Ergriffenheit ist, aber wenn man zwei Stunden nur ironische Glossen hört, die den intellektuellen und sehr selbstbewußten Witz an der Stirn tragen, dann geht die Wirkung in die Breite, statt in die Tiefe, dann entsteht eine familiäre Verknüpfung zwischen Vortragendem und Publikum, welches, des sittlichen Willens nicht mehr eingedenk, nur auf geistsprühende Satire wartet. Man kann auf weitem Platze unbesorgt davon sprechen, daß man schon 1914 gewarnt und gehöhnt hat, aber im Bechsteinsaal vor einer noch so großen Gemeinde, die das weiß, klingt es eitel. Und über dies hinaus: die da klatschten, sind ja gar nicht alle Verfechter der traurigeu Wahrheit, um die es Krauß zu tun ist, sondern Anhänger seiner brillanten Gestaltungskraft. Dafür kann Krauß nichts, wird man einwenden. Und er kann doch dafür, wenn er Helfershelfer wird, indem er den ganzen Abend auf Negation, und sei sie noch so sittlichen Ursprungs, einstellt. Einmal, nur einmal leuchtete versonnen, gütig, ergreifend und traurig das ganze Elend der großen Zeit auf: dies war, als Krauß einen Brief von Rosa Luxemburg an Sonja Liebknecht aus dem Gefängnis vorlas. Das war erschaudernd. So kann Ethik gepredigt werden. hso.

[Vorwärts zitiert in: Die Fackel 546-550, 07.1920,  13-14] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Datum: 
05.1920