Rezension von Max Schach

Dichter und Richter.

 

Berliner Abende von Karl Kraus.

 

An drei Abenden hat K. K. in Berliner Vortragssälen Begeisterung geweckt und für seinen infernalischen Haß gegen alles, was diese Welt zum Friedhof gemacht hat, Liebe, bewundernde Liebe gefunden. Seine Zeit ist gekommen.

 

Wir aber erinnern uns der Zeit, die noch nicht die seinige war. Er, K., hat geholfen, sie zu wandeln. Auf den Wiener Schulbänken haben wir die roten »Fackel«-Hefte von Hand zu Hand gehen lassen; aus zusammengepumpten Kreuzern war so ein Heft erstanden; gelesen, nein, zerlesen wurde es in den Schrank gelegt. Vielleicht neben Schillers »Räuber« — weil hier wie dort der brausende Kampfruf: »In tyrannos« durch die Welt schwang. Unser Lehrer für den wichtigen Gegenstand »Deutsche Sprache« war Karl Kraus: er ist es geblieben. Als Schuljungen war es unsere Wonne, wenn er manchem erwachsenen Deutschschreiber ein vernichtendes »Ungenügend« aufknallte. Er zwang uns, die wir im Wiener Augarten nach den Sternen griffen und unseren Schmerz, unsere Sehnsucht in die stillen Alleen deklamierten (wir waren zwölf, dreizehn Jahre und hatten noch nichts für die Unsterblichkeit getan!) zu sich. Obschon er gerade das nie und nimmer will; seine Stärke ist die Einsamkeit. Seine Liebe zum Guten der Haß gegen das Schlechte und Häßliche. Ein Ganzer, Eigener ist er, und die objektive Erkenntnis, daß die Objekte eines gewitternden Zorns nicht immer im richtigen Verhältnis zur Größe des Ausbruches stehen, kann die subjektive Wertung dieser kraftvollen, durchgluteten Persönlichkeit nie bestimmen. Mancher Gegenstand seiner Attacken wird sang- und klanglos untergegangen sein: die Erinnerung an die Attacke wird bleiben. Denn sein Wort, sie müssen es stehen lassen. Sein Wort ist nicht geschrieben, es ist gehämmert und geschweißt, durch die Rotweißglut eines ungeheuerlichen Temperamentes gegangen und vom zartesten Fühlen zum Leben geweckt. Was Fritz Mauthner vom Leben der Sprache ernsthaft-scherzend meinte, ist bei K. verwirrende, bannende Wahrheit: daß die Buchstaben eines Wortes, die Worte eines Satzes durcheinander-aufeinander zu stoßen scheinen, daß sie ein richtiges, koboldhaftes Dasein führen. Das wird bei K. zur Lebensgewalt.

Den tiefsten Sinn seines Wortes vermag nur er selbst zu künden. Das macht seine Vortragsabende zum Außerordentlichsten. Wieder hat man es erfahren, und wenn auch das »Zeitgemäße« die Wirkung dieser Abende steigern mußte, so kam das Bezwingendste doch aus dem Gefühl, daß hier einer das schauerlichste Erleben der großen Zeit in zeitlose Form gepreßt hat. Gepreßt — denn dieses vielaktige satirisch-dämonisch-titanenhafte Werk »Die letzten Tage der Menschheit« werden .. als das Dokument von der Zeiten Schande und von Europas Not bleiben. Eine Gespenstersonate. Sie leben, salutieren, sagen von Nibelungentreue, werden ihren Soldaten schon das Sterben lehren, o ja!, und fluchen den »Skriblern« und den »Frontschweinen«, die sich, o wahrhaft großer Tag, endlich doch kampflos vom Feinde ablösen. Was ist das da im Kasino hinter der Piavefront? Dies lebt — und ist doch tot! Dies war tot — und lebt doch wieder! Ein Dichter, der unerbittlicher Richter ist, hält die Wage der Zeit in seiner Hand und weint, daß die Schale der Wahrheit leer hochsteigt. Hohe Generale, die flotten Offiziere, das sterbende »Frontschwein«, gepeinigte Zivilbevölkerung, verschobener Mais, steigender Preis, Standgericht und Schandgericht: es taumelt, zieht, flieht, tappt vorüber, ballt sich zu schauerlichen Visionen und ist, dieweil es satanischer Spuk scheint, Wahrheit gewesen. Ist es noch, wird es für immer bleiben. Kein Schlachtbericht der Schlächterzeit hat dies Grauen ausgelöst, kein Jammer dieses Herzbangen. Niemals stärker als in diesem gellenden Schrei wurde uns allen die Stimme der mißhandelten Kreatur hörbar.

 

So hat, endlich, die Zeit der Kriegsdichter ihren Kriegsrichter gefunden. Und wenn es in der Hauptstadt dieses (seiner Verfassung nach republikanischen) Reiches eine wirklich ideale Schaubühne gäbe: dann hätte sie dem Richter längst das Werk des Dichters abgerungen, längst diesen Teufelsspuk vor der Kulisse unserer Tage erscheinen lassen.

Alle, die es traf, wären ein einzigartiges Publikum. Sie würden, zwischen bitterem Lachen und getröstetem Weinen, den Mann in Ehrfurcht grüßen, dem zum genialen Können das inbrünstige Wollen ward. Und der aus den letzten Tagen einer verlorenen Menschheit den Weg zu den ersten einer neuen Menschheit sucht.

Max Schach.

[Max Schach, zitiert in: Die Fackel 531-543, 04.1920, 33-35] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Datum: 
01.1920