Rezension von Mirko Jelusich mit Anmerkungen von Karl Kraus

Vorlage für die Fackel 303/304, 31. Mai 1910

Transkription: 

Die Wiener Vorlesung Karl Kraus

Am 3. Mai hielt Karl Kraus zum ersten Mal in Wien eine Vorlesung aus eigenen Schriften. Die ganz exzeptionelle Bedeutung des Herausgebers der ‚Fackel‘ an dieser Stelle darzulegen, wäre überflüssig. Wer den ‚Sturm‘ liest, kennt auch Karl Kraus, kennt seine unübertreffliche Sprachkunst, sein unheimliches Temperament und seine noch unheimlichere Treffsicherheit; weiß, daß Kraus der erste Satiriker Österreichs ist, umjubelt von fanatischen Anhängern und gefürchtet von seinen Gegnern, denen keine andere Waffe gegen seine wuchtigen Angriffe, seinen schneidenden Hohn, seine zermalmende Verachtung zu Gebote steht, als ein starres, ununterbrochenes, impotentes Schweigen [...] Daß dieses Schweigen nutzlos ist, bewies die Vorlesung. Der Saal war überfüllt, als Karl Kraus das Podium betrat und zu lesen begann. Der Ausdruck der scharfen Züge ist kühl, spöttisch, überlegen. Und bevor Kraus zu sprechen beginnt, weiß man, daß seine Stimme klar und scharf ist [...].
Dann las Kraus »Die chinesische Mauer«, seine schnell berühmt gewordene Arbeit, in der er das Problem der beiden Rassen von allen Seiten beleuchtet. Man kennt den wuchtigen Anfang, der dröhnend und unvermittelt niederfährt, wie ein einschlagender Blitz [...]. Kraus arbeitet hier mit den einfachsten Mitteln und beweist dadurch seine große Künstlerschaft. Außerordentlich fesselnd war es, den Vorlesenden zu beobachten. Wie sein Gesicht starr und drohend wurde; wie seine Schultern sich raubtierartig hoben; wie seine Rechte in kurzen Rucken über den Tisch zuckte, sich ballte, sich um eine unsichtbare Gurgel zu krallen schien, den Niagara von Worten gestaltete, der auf die atemlos horchenden Menschen niederbrauste, bis zu jenem titanenhaften Schluß, in dem die angestaute Hochflut sich befreit und majestätisch ausbreitet [...]. Da der Beifall nicht enden wollte, entschloß sich Kraus zu einer Zugabe: Er las »Die Welt der Plakate«, diese witzige Betrachtung voll souveränen Humors. Alles in allem: ein außerordentlicher Abend, getrübt nur durch den beschämenden Gedanken, daß man es so lange versäumte, die Schönheit Krausscher Sprachkunst verbunden mit der Schönheit Krausscher Sprechkunst auf sich wirken zu lassen. Denn nicht Kraus ist schuld, daß dies seine erste Vorlesung in Wien war, sondern Wien.

Mirko Jelusic

Signatur: 
H.I.N.-202687
AutorInnen: