258. Vorlesung am 24.01.1923

Wien
24.01.1923

[Karl Kraus las im Festsaal des Niederösterreichischen Gewerbevereines am] 24. Januar, 7 Uhr:

I. Judith und Holofernes. Travestie in einem Akt. Musik von Viktor Junk (Marsch und Entree des Joab nach der Originalmusik von Carl Binder). (Diese vollständige Vorlesung enthielt auch das Couplet »Man find’t’s ganz natürlich und kein Hahn kräht darnach«, mit Zusatzstrophen.)

II. Die schlimmen Buben in der Schule, Burleske mit Gesang in einem Akt. Musik von Adolph Müller sen. (Der fehlende Chor der Väter und Mütter nach Angabe des Vortragenden. Das Lied des Willibald von Mechtilde Lichnowsky).

[Die Fackel 613-621, 04.1923, 42] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

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I

Judith und Holofernes

Travestie in einem Akt

Musik von Viktor Junk (Marsch und Entree des Joab nach der Originalmusik von Carl Binder)

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(Diese vollständige Vorlesung enthielt auch das Couplet »Man find’t’s ganz natürlich und kein Hahn kräht darnach«, mit Zusatzstrophen.)

10 Minuten Pause

II

Die schlimmen Buben in der Schule

Burleske mit Gesang in einem Akt

Musik von Adolph Müller sen. (Der fehlende Chor der Väter und Mütter nach Angabe des Vortragenden. Das Lied des Willibald von Mechtilde Lichnowsky).

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Begleitung: Viktor Junk

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»Judith und Holofernes« ist am 13. März 1849 im Carltheater — mit Nestroy als Joab-Judith und Wenzel Scholz als Holofernes — zum erstenmale und seit Jahrzehnten nicht mehr gespielt worden. Bei der ersten Aufführung ist der Verfasser, durch die Gemeinheiten der zeitgenössischen Kritik und zumal des erbärmlichen, von Hebbel geschätzten Saphir dazu bewogen, anonym geblieben und erst nach dem ungeheuren Erfolg hervorgetreten. Eine Kainz-Vorlesung (1909), der der heutige Vortragende nicht beigewohnt hat — er selbst hat das Stück am 4. und am 25. April 1917 gebracht —, ist manchem in Erinnerung; sie soll, wie alle seine Versuche an Nestroy und Raimund, den berühmten Sprecher von seiner unzulänglichsten Seite gezeigt haben.

Durch die parodistischen Riesenmaße von Heldentum und Wucher der Gegenwart angenähert, ist diese Satire das Urbild des seither arg banalisierten Humors der jüdischen Kasernhofblüte. Das Entree des Joab, ein Meisterstück in Wort und Musikjargon, konnte vom Vortragenden nur als theatergeschichtliches und schauspielerisches Inventarstück übernommen werden, denn so angepaßt den Erlebnissen und Nachwirkungen der großen Zeit das Heldenprotzentum auf assyrischer Seite und der Wucher auf der andern sein mag, so verfehlt doch der Spott, daß »unsere Leut’ sind gar g’scheit, hab’n zum Kriegführ’n ka Freud« — von einem überlebten und durch diesen Schandkrieg entehrten Tapferkeitsideal bezogen — sein Ziel und läßt unsere Leut’ nicht als Vorbild der Feigheit, sondern eher der Weisheit erscheinen, durch welche sie sich von allen andern Völkern vorteilhaft unterscheiden würden, die leider Gottes samt und sonders zum Kriegführ’n noch immer a Freud haben. Ganz abgesehen davon, daß ja die Freud’ hier immer nur in der phantasielosen Erwartung und nicht im blutvollen Erlebnis beruht und daß dem inter- konfessionellen Zwang zum Heldentod ganz ebenso jene unterworfen werden, deren freier Entschließung es zwar anheimgestellt blieb, gegen den Holofernes, aber nicht gegen die Entente Krieg zu führen. Und wo die Pflicht, zu sterben und zu töten, gleich verteilt  ist, wäre ein Mangel an Freude eher ein Vorzug an Menschlichkeit. Selbst vom Gesichtspunkt eines verblichenen heroischen Ideals, das sicherlich noch bis in Nestroys Tage sichtbar war, aber heute auch von ihm und gerade von ihm nicht mehr vorgefunden würde, mochte der verallgemeinernde Spott seiner Berechtigung entbehren. Gleichwohl muß gesagt werden, daß bei dem Versuch, den Menschen an jenem Ideal zu messen, nicht das Generalisieren, sondern das sich generalisieren lassen zur größeren Unehre für Nation und Menschheit ausschlug. Die Juden für zu feig zum Kriegführen zu halten, mag so lange seine Berechtigung oder Nichtberechtigung gehabt haben, bis das Kriegführen sich als die weitaus größere Feigheit herausgestellt hat. — Es ist also, um diesen notwendigen Vorbehalt nicht zum Hindernis einer doch nicht vorweg ausgeschalteten Wirkung erwachsen zu lassen — und sie läßt sich aus der Reproduktion eines klassischen Humorwerks nicht ausschalten — auch ebenso notwendig, von aller Zeit- und Kriegsperspektive, die die Beurteilung in diesen scheußlichsten Belangen so radikal verschoben hat, abzusehen und sich auf die Grundlage einer einst normierten, wenngleich längst unberechtigten und immer problematischen Anschauung zu stellen, auf der ja das meisterliche Couplet seines Witzes und Wertes nicht verlustig gehen kann, und der Vortragende muß sich hier auf die Ehre des darstellerischen Dienstes für eine berühmte Satire zurückziehen. Weil dies aber, trotz dem Vorbehalt, doch nicht ohne einen unbeglichenen Rest der geistigen Rechnung geschehen könnte wie auch, wegen des Vorbehalts, der künstlerischen: so hat er sich entschlossen, dem Couplet durch eine Zusatzstrophe zu opponieren, die dessen Meinung gemäß der zeitlichen Wahrheit aufhebt, aber dessen geistige Linie umso folgerichtiger fortsetzt.

Ludwig Speidel hat im Jahre 1881, anläßlich des Nestroy-Zyklus im Carltheater, geschrieben: »In dieser Parodie steht Nestroy zwar nicht der Kunst und dem Schönheitssinn, aber dem sicheren Treff nach auf gleicher Höhe mit den genialsten Komödiendichtern. Aristophanes hat den Euripides nicht bitterer gezüchtigt, Molière die Preziösen nicht schärfer gehechelt, als Nestroy der Hebbel’schen Gestalt des Holofernes zugesetzt hat.« Diese Parodie läßt nur eines vermissen: daß Nestroy, der in dem Jahr gestorben ist, in dem sie erschienen sind, Hebbels »Nibelungen« nicht gekannt hat.

»Die schlimmen Buben in der Schule« (nach Maître d’école von Locroy) ist zur Eröffnung des von Carl umgebauten Theaters in der Leopoldstadt geschrieben und am 7. Dezember 1847 zum erstenmal aufgeführt worden. Nestroy spielte die Rolle des Willibald.

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