262. Vorlesung am 28.01.1923

Wien
28.01.1923

[Karl Kraus las im Festsaal des Niederösterreichischen Gewerbevereines am] 28. Januar, 7 Uhr:

Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab, parodierende Posse mit Gesang in drei Abteilungen. Musik von Mechtilde Lichnowsky. [Mit der bekannten Zusatzstrophe.]

[Die Fackel 613-621, 04.1923, 51] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

[...]

Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab

Parodierende Posse mit Gesang in drei Abteilungen

Musik von Mechtilde Lichnowsky

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Begleitung: Viktor Junk

Zwei Pausen

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Programm-Notiz vom 4. Dezember 1922:

Die erste überaus erfolgreiche Aufführung der Parodie hat am 13. Februar 1835 stattgefunden; sie dürfte aber bald nach dem Original Holteis und nach dessen Gastspiel in der Rolle des Dichters Heinrich vom Wiener Repertoire verschwunden sein. Freilich hat Holteis »Lorbeerbaum und Bettelstab« wie jede solche Schablone für schauspielerisches Pathos gelegentlich noch große Darsteller und Virtuosen, von Emil Devrient bis Haase und Sonnenthal, angezogen und sich auch in der Provinz erhalten. Wenn man heute als Leser die Wahl hat, dieses Rührstück eines der bravsten Menschen und schlechtesten Musikanten jener Literaturepoche oder die Nestroy’sche Posse für eine Parodie zu halten, so würde man glauben, jenes sei sie. Nicht mit Unrecht sagt ein Monograph, daß Nestroys Dichter Leicht »weniger eine Karikatur des Originals als vielmehr ein bis ins Zynische getriebenes Gegenstück« sei. Nestroy hat dem Jammerlappen, dessen »Genie« darin besteht, daß er es behauptet und gegen die Banalität einer undankbaren Welt mit seinem banaleren Begriff von Poetentum und mit unleidlicher Schönrednerei auftrumpft, ganz bewußt seinen resoluten Theaterhandwerker und späteren Harfenisten entgegenstellt und die Beziehung auf die Vorlage eigentlich nur in der gesellschaftlichen Reduzierung des Milieus durchgeführt. »Wollen Sie mich foppen? Oder halten Sie mich wirklich für so dumm? Bis zum Lorbeer versteig’ ich mich nicht. G’fallen sollen meine Sachen, unterhalten, lachen sollen d’ Leut’, und mir soll die G’schicht a Geld tragen, daß ich auch lach’, das ist der ganze Zweck. G’spaßige Sachen schreiben und damit nach dem Lorbeer trachten wollen, das ist grad so, als wenn einer ein’ Zwetschgenkrampus macht und gibt sich für einen Rivalen von Canova aus.« Wenn diese berühmt gewordenen Worte des Leicht wirklich ein Selbstbekenntnis seines Autors waren, so konnte Nestroys Bescheidenheit, der man zwar die künstlerische Geringschätzung des eigenen Wirkens, aber nicht dessen materielles Motiv glaubt, nur von seinem Genie übertroffen und berichtigt werden, das sich auch im Dialog dieses unbekannteren Werkes nicht verleugnet. Die Figuren sind ganz losgelöst von ihrer Beziehung verständlich, zumal der dem weltgewandten »Chevalier« Holteis kontrastierte Herr Überall, der grundsätzlich nur nach Fischamend reist und alle Geschehnisse aus der Perspektive dieses Ortes betrachtend, das Urbild eines geradezu liebenswerten Idiotismus darstellt. Der Vortrag, in dem nur wenige saloppe oder ungenau überlieferte Versstellen verändert und die zwei Coupletstrophen des Herrn Überall um eine Zusatzstrophe vermehrt sind, wurde durch die Entstehung der Begleitmusik angeregt, die gleich dem Entree in den »Schlimmen Buben in der Schule« und den andern Kompositionen Mechtilde Lichnowskys zu Nestroy (namentlich im Lied der Agnes, des Fischamend-Narren und in den drei Harfenistenliedern) ein Wunder der Einfühlung bedeutet und eine verschollene Zeitstimmung so wiederherstellt, daß man sich die verschollene Originalmusik gar nicht anders und nicht zeitechter denken könnte.

Das ist klassisch!

Vor dem Ankauf des so benannten Büchleins von Egon Friedell, einer Zusammenstellung von Nestroy-Worten nach dem Muster der L. Rosner’schen, der Gottslebenschen und der in der ‚Fackel‘ (Mai 1912) erschienenen Sammlung, wird gewarnt. Die guten Rollenbilder Nestroys können für die Entstellung seines Geistes nicht entschädigen. Herr Friedell spricht von der »nicht ungeschickten, aber etwas oberflächlichen« Sammlung L. Rosners und rühmt sich eines Registers, in dem jene Worte Nestroys angeführt seien, »die in seiner Heimat mehr oder weniger geläufig sind«. In Wahrheit sind sie in Nestroys Heimat so wenig geläufig, daß sie wohl auch Herr Friedell erst aus seiner Zusammenstellung kennen gelernt hat. Er versäumt nicht, »für die kluge und emsige Unterstützung bei der Auswahl« einem anderen Herrn herzlichen Dank zu sagen, aber auch dieser dürfte sie erst aus dem Büchlein »Das ist klassisch!« kennen. Auf dem Umschlag behauptet indes der Verlag, daß hier »zum erstenmale, sorgfältig und nach revidierten Texten« die witzigsten und weisesten Aussprüche Nestroys »von einem wahlverwandten Kenner gesammelt« wurden, und weist darauf hin, daß ein Register »dieses Revier« beschließe. Obschon nun aber der Verlag ein Revier mit einem Brevier verwechselt, so darf man darum doch nicht glauben, daß man Nestroy mit Friedell verwechseln kann. Denn wie wenig Nestroys Revier das des Herrn Friedell ist und wie sehr es mit der Wahlverwandtschaft Essig ist, zeigt sich gleich bei der Verbindung, die beide Individualitäten zum Zwecke einer Auswahl eingehen. Man würde meinen, daß Nestroy, dessen Werke ja nur gelesen werden müssen, um ihre Zitierung zu ermöglichen, es seinem Herausgeber leicht gemacht hat. Wenn Friedell Nestroy auf ein politisches Glaubensbekenntnis festzulegen gehabt hätte, so wäre es gewiß schwerer gewesen, und mit Recht bemerkt er ja in seinem nicht ungeschickten, aber etwas oberflächlichen Vorwort, daß Nestroy, der die Dinge von oben betrachtet hat, von rechts und links reklamiert und angefeindet werden konnte. (Und ich selbst mag in dem Bestreben, Nestroy gegen liberale Berufungen zu schützen, ehedem manchmal zu weit gegangen sein.) Was aber unbedingt leicht sein müßte, ist: zu erkennen, ob ein Ausspruch von ihm überhaupt eine politische Meinung hat. Da finde ich denn in dem gerühmten Register unter dem Schlagwort »Volk« auf zwei Sätze hingewiesen. Beide sind in die Rubrik »Der Staat« eingereiht. Der eine: »Das Volk is ein Ries’ in der Wieg’n …«, ohne Zweifel ein politisches Wort. Der zweite: »Wenn das Volk nur fressen kann …«, der anscheinend eine besonders scharfe Invektive gegen die Demokratie bedeutet, hat den folgenden Wortlaut:

Wenn das Volk nur fressen kann! Wie s’ den Speisenduft wittern, da erwacht die Eßlust, und wie die erwacht, legen sich alle andern Leidenschaften schlafen; sie haben keinen Zorn, keine Rührung, keine Wut, keinen Gram, keine Lieb’, keinen Haß, nicht einmal eine Seel’ haben s’. Nichts haben s’ als einen Appetit …

Auch wenn ich nicht kurz bevor ich das Zitat las, das Werk vorgelesen hätte, dem es entnommen ist — »Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab« —, so wäre mir die Geschicklichkeit, durch die sich diese Auswahl von der oberflächlichen andern unterscheidet, aufgefallen. Ja selbst wer das Werk und die Situation, in der das Wort gesprochen wird, nicht kennt, dem muß der Verdacht aufsteigen, daß Nestroy, der das Volk einen Riesen in der Wieg’n genannt, es aber nicht geringgeschätzt hat, hier »Volk« nicht als politischen oder sozialen Begriff setze, sondern daß es sich da offenbar um eine in der Situation begründete Kritik handle, in der »Volk« als ein Schimpfwort steht, das einem Haufen von Müßiggängern gilt, wie »Pack«, »Gesindel«, »Bagage«. Der Dichter Leicht sieht, wie die Gesellschaft zur Tafel geht, weigert sich mitzutun und spricht den Satz. Es ist eine Gesellschaft von Spießbürgern und Kapitalisten, und die Figur spricht somit als Apemantus und nicht als Coriolan. Wenn die Worte einen politischen Geschmack hätten, so könnten sie eher die Auflehnung des Volkes gegen den Bourgeois bedeuten, also gewiß keine antidemokratische Spitze haben. Stellt man sich vor, daß das »Volk«, dem die Schmähung gilt, identisch sein soll mit dem Volk, das ein Riese in der Wieg’n ist, so kann man erst ermessen, was da dem Herrn Friedell unter der Devise »Das ist klassisch!« passiert ist. Und Herr Friedell stellt das Wort unter die in der Heimat Nestroys mehr oder weniger geläufigen. (Er meint hier wohl: weniger.) Fände sich der Ausspruch in einer der bereits erschienenen Sammlungen — und der Verdacht war gegeben, daß er aus einer solchen einfach übernommen sei —, so wäre er dort ganz gewiß bloß als Beispiel Nestroy’scher Menschheitskritik zitiert und etwa unter »Gesellschaft« eingestellt. Aber Herr Friedell — oder sein Mitarbeiter — hat tatsächlich auf das Original zurückgegriffen, um diese Beute zu machen. Noch die Absicht einer politischen Fälschung (die ganz gewiß nicht vorliegt) wäre harmloser als eine geschickte Oberflächlichkeit, die im wahlverwandten Autor blättert und bei dem Wort »Volk« im Nu eines Politikums habhaft wird. Wie man dreißig Jahre nach dem Tod eines Autors ihn beliebig drucken und verdrucken darf, so gibt es auch kein strafrechtliches Hindernis für die Entstellung seines Geistes. Ich erwarte aber von Herrn Friedell, der in einem Revier gepirscht hat, in dem er nicht zuhause ist, und von dem Verleger des Reviers, daß sie den Jagdfrevel in der nächsten Auflage vergessen machen werden.