36. Vorlesung am 06.01.1913

Prag
06.01.1913

[Karl Kraus las in] Prag, im Palace-Saal, am 6. Januar: I. Nestroy: Szenen aus »Die beiden Nachtwandler oder: Das Notwendige und das Überflüssige« II. Untergang der Welt durch schwarze Magie (aus S. 6—11, 18—23) / Man muß die Leute ausreden lassen; Durch Bahr zur Suffragette geworden; Auf der Suche nach Fremden; Ich pfeife auf den Text; Petite chronique scandaleuse III. Harakiri und Feuilleton (mit Vorwort). — Zugaben: Beim Anblick einer sonderbaren Parte; Der Deutlichkeit halber; Interview mit einem sterbenden Kind; Ich rufe die Rettungsgesellschaft; Wahrung berechtigter Interessen. [Die Fackel 368-369, 05.02.1913, 24] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

Vorlesung Karl Kraus

Montag, 6. Januar, halb 8 Uhr

Saal des Palace-Hotels (Herrengasse)

Programm

I.

Strindberg: "Attila"

Nestroy: Szenen aus "Die beiden Nachtwandler" oder: "Das Notwendige und das Überflüssige", Posse mit Gesang in zwei Aufzügen

Personen: Lord Wathfield; Lord Howart, Bräutigam von dessen Tochter; Sebastian Faden, ein armer Seilerer; Fabian Strick, sein Geselle; Pumpf, ein Bandelkramer; Hannerl, seine Schwester, eine Wäscherin, Stricks Geliebte; Herr von Brauchengeld, ein zugrundgegangener Rentier: Mathilde, Emilie, seine Töchter; Therese, deren Stubenmädchen; Amtmann Geier; Rasch, Schloßinspektor; Anton, Georg, Bediente; Gäste; Wächter.

(Die Vorlesung beginnt mit dem Entree-Lied des Strick, der arbeitend aus der Kulisse kommt: 13. Szene)

1836 entstanden. Eine Zauberposse, welche die Geisterwelt Raimunds aus eigenen und geistigeren Mitteln herstellt und den Apparat entbehrlich macht, indem sie nur mit dem Glauben der Menschen an Geister arbeitet und allen Zauberspuk aus der Wirklichkeit bezieht. Sebastian Faden, ein armer Seilermeister, ist Nachtwandler. Er ist in das Zimmer der Geliebten seines Gehilfen Fabian Strick geraten und wird deshalb von seiner eigenen Braut wie von dem Gehilfen selbst verlassen, der auch seine Geliebte im Stich läßt. Das Nachtwandeln aber, das ihn so ins Unglück gebracht hat, schlägt ihm alsbald wieder zum Heil aus. Denn er hat sich damals auch in ein Zimmer des Gasthofes verirrt, wo gerade eine Gaunerbande eingebrochen ist, um den reichen Lord Howart, den neuen Gutsherrn, zu berauben. Die Gauner entfliehen, da sie Faden durch das offene Fenster einsteigen sehen, sie halten ihn für einen Geist, und der Nachtwandler wird zum Lebensretter des Engländers. Lord Howart beschließt, sich dem Seiler, dessen Elend ihm bekannt wird,dankbar zu erweisen und ihn glücklich zu machen. Lord Wathfield (ein
altmodisch gekleideter Herr, der eine Zopfperücke trägt) bezweifelt, daß dies gelingen könne. »So versuchen Sie’s«, sagt er, »öffnen Sie der Begierde eines Menschen das Tor der Erfüllung, und Sie werden sehen, welch ein unabsehbares Heer von Wünschen er hereinsendet, und dann ist es erst noch die Frage, ob er sich dabei glücklich fühlt.« Lord Howart aber läßt sich von seinem Entschluß nicht abbringen und gelobt, Malvina, Wathfields Tochter, nicht eher seine Gattin nennen zu wollen, als bis er den armen Teufel zu einem glücklichen Menschen gemacht habe. Die Wette wird geschlossen, und die beiden Engländer treten dem Faden als höhere Wesen entgegen, bereit, alle seine Wünsche zu erfüllen: solange er sich damit begnüge, das Notwendige zu verlangen.
Nun führt die Handlung die Stufenleiter der wachsenden Begehrlichkeit empor, bis sich der Beglückte endlich so weit versteigt, das Überflüssige zu fordern. Denn Faden hat sich in die Tochter eines Bankrotteurs verliebt, die ihn zu maßlosen Zumutungen an die vermeintlichen Geister aufstachelt, und der Glückspilz erwartet schließlich die Befriedigung der närrischesten Laune … Die in einem tiefen Sinn fadenscheinige Handlung läßt auch in den eingewirkten Liebesepisoden bis auf den Grund blicken, wo alle menschlichen Niedrigkeiten wohnen. Sie wird aus der Fülle einer fast schemenhaften Einfachheit zu einer Steigerung getrieben, die, wie in Shakespeares Timon, in einer grandiosen Tafelszene gipfelt, nur daß dort die Erkenntnis ihr Strafgericht hält, hier aber die Verblendung gebüßt wird.
Faden und sein Gehilfe Strick, der sich im Glück wieder zu ihm gesellt hatte, werden in ihre alte Armut verstoßen und kehren, für den Schmerz des jähen Wechsels von den Wohltätern noch entschädigt, in ihre früheren Lebens- und Liebesverhältnisse zurück. — Die Wiener Volksbühne hat kein Drama, das sich dieser Posse vergleichen könnte. Sie ist deshalb seit 1836 - mit Ausnahme der Darstellung im Carltheater-Zyklus von 1881 - nicht aufgeführt worden und die Literarhistoriker nennen ihre Idee »echt vormärzlich«. Die »beiden Nachtwandler« enthalten — in der Figur des Sebastian Faden — die einzige Girardi-Rolle, die Nestroy geschrieben hat.

10 Minuten Pause

II.

Karl Kraus: Satiren und Glossen 

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