Rezension der Bohemia

Karl Kraus, der Thersites des Wiener Feuilletons, las gestern wieder einmal in Prag. Im Palacehotel versammelte er seine Schätzer und alle die, welche noch außerdem an dem scharfzüngigen Polemiker und Aphoristiker ein Interesse nehmen. Man hörte zunächst einige Szenen aus Nestroys Posse »Die beiden Nachtwandler«, die der Wiener Satiriker wohl aus Sympathie für die grotesken Sittenzeichnungen dieses vormärzlichen Wiener Daumiers gewählt hatte und mit behaglicher Versenkung in alle Details menschenverachtender Schilderung menschlicher Niederträchtigkeit vorlas. Der zweite Teil des Abends brachte dann das vom Publikum einzig Erwartete: eigene Arbeiten des Gastes. Der eines Saphir würdige »funkelnde« Witz, die Schärfe der Pointe in jedem Angriff, die kecke Vermengung der Halbwahrheit mit der gehässigen Verzerrung zu packenden Sittenkarrikaturen sind unfehlbar wirkende Wesenseigenschaften der Krausschen Psyche. Sie können ausreichen, einen guten, wenn auch nicht sympathischen Künstler auszumachen: das hat Karl Kraus gelegentlich bewiesen. Gestern lernte man nur den Pamphletisten kennen, den Gift und Galle um sich spritzenden, blind und überscharfäugig zugleich gegen das Objekt seines Hasses wütenden Outsider des Wiener Journalismus. Auch dies war nicht ohne Reiz, doch war es weniger Reiz von literarischem Aroma als der Hautgout des Skandals. Die Lebensquelle dieses arg-aretinischen Temperaments scheint wirklich der Haß und nur der Haß zu sein. Und so schießt auch die Selbstbeweihräucherung des Bescheidenen weit vom Ziele. a. st.

[Bohemia,  07.01.1913, zitiert in: Die Fackel 368-369, 05.02.1913, 25] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Datum: 
07.01.1913