507. Vorlesung am 03.06.1929

Wien
03.06.1929

[Karl Kraus las im Architektenvereinssaal am 3. Juni]

Offenbach-Zyklus (Zum 110. Geburtstag), Theater der Dichtung

Pariser Leben

Begleitung: Georg Knepler.

[Die Fackel 811-819, 08.1929, 59] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

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Pariser Leben.

Burleske Operette in 4 Akten (5 Bildern) von Jacques Offenbach.

Text von Meihac und Halévy

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Begleitung: Georg Knepler

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Mit neuen Zeitstrophen

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Eine Ausgrabung

An Th. Th. Heine

Hochgeehrter Herr!

Sie haben in Nr. 10 des ‚Simplicissimus‘ unter dem Titel »Moderne Schriftstellereien« eine Serie von Bildern veröffentlicht, deren eines vermutlich Herrn Karl Kraus darstellt, wie er einer anderen Gestalt verwehren will, sich am Grabe Jacques Offenbachs zu schaffen zu machen, indem er ihr zuruft: »Was — den wollen Sie ausgraben? Nichts da — den mach’ ich lebendig!«

Herr Karl Kraus läßt Ihnen sein Bedauern darüber aussprechen, daß Sie mit diesem Text Ihre außerordentliche Kunst in den Dienst einer schlechten Sache gestellt haben. Er möchte sich keineswegs dagegen wenden, daß Sie seinen Anspruch, Offenbach »lebendig zu machen«, komisch finden, und es ist bloß nicht richtig, daß er irgendeinem andern verwehren will, desgleichen zu tun, wenn er es vermag — ganz abgesehn davon, daß Offenbach nicht lebendig gemacht werden könnte, wenn er es nicht wäre, und eben nur das Schicksal erleidet, von den Bühnen totgemacht zu werden. Eines der krassesten Beispiele hiefür bildet das Münchner Unternehmen, dessen Vertreter von Ihnen in der Mission dargestellt wird, Offenbach »auszugraben«. Die Gestalt, die etwas dagegen hat, erlaubt sich, Sie bei der Metapher zu nehmen und Ihnen zu sagen, daß das Ausgraben hier dem Zweck der Leichenschändung gedient hat — soweit die Verjazzung der Offenbach’schen Musik durch Herrn Salomon in Betracht kommt wie die Verschandelung des Treumann’schen Textes von »Pariser Leben«, vor allem des berühmten Metella-Briefes, durch Herrn Scher — und im besonderen Fall des Mannes, den Sie am Werke vorführen, auch dem Zweck des Leichenraubes, indem der Täter fremdes Geistesgut nicht nur mißbraucht, sondern sich auch angeeignet hat — eine Handlung, die Sie in dem be- nachbarten Bilde an dem weit geringfügigeren Beispiel einer ver- wendeten Übersetzung stigmatisieren und die nach österreichischem Urheberrecht strafbar ist. Eben diesem Tun hat Herr Karl Kraus gewehrt, und ohne den Text Ihrer Zeichnung wäre deren Sinn völlig unmißverständlich und angebracht. Sie mögen danach selbst beurteilen, welche Tätigkeit der handelnden Figuren, die des Ausgrabers oder die des Lebendigmachers, der doch nur gegen Frevel protestiert hat, in die Kategorie einer »modernen Schriftstellerei« gehört, und ob sich der Sinn Ihrer Zeichnung nicht mit Unrecht gegen die Gestalt wendet, die von ihrem Handeln keine Tantiemen bezieht.

Herr Karl Kraus wiederholt, daß Sie Ihre außerordentliche Kunst in den Dienst einer schlechten Sache gestellt haben, geradezu in den Dienst des Kaufmanns mit Konterbande — was keinesfalls durch die Erwägung gemildert würde, daß dieser zufällig Chefredakteur des Blattes ist, dem Sie das Bild gewidmet haben.

Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochschätzung
Der Verlag der Fackel

Verklungen und vertan

‚Arbeiter-Zeitung‘, 23. Dezember:

Aber wenn wir über die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Wiederbelebung der Offenbach-Operetten anders dächten? Wenn wir meinten, daß diese Kunst aus dem Geiste des dritten Kaiserreiches verklungen und vertan sei?

»Jacques Offenbach, Beiträge zu seinem Leben und seinen Werken«, herausgegeben von Kurt Soldan, Verlag F. A. Günther & Sohn A. G.:

Fritz Zweig (Berlin): ».. Und doch bewegt sich diese … Art der Beurteilung des originellsten aller Musiker nur allzu sehr an der Oberfläche, denn für Offenbach sind die Zweideutigkeiten, deren er sich unstreitig offen bedient, nur das Mittel, um einer entarteten und verkommenen Welt- und Kunstanschauung den Spiegel seiner unerbittlichen Satire vorzuhalten. — — Offenbach wendet sich bewußt gegen alle Lügen seiner Zeit, gegen die gesellschaftlichen, künstlerischen und politischen Lügen. — — Was sind also die Bestrebungen Offenbachs und seiner ausgezeichneten Textdichter anderes als Versuche, das Schlechte, Geschmacklose, Verkommene und Unmögliche bloßzustellen, die Heuchelei zu entlarven, alle Auswüchse der Zeit dem Fluche der Lächerlichkeit preiszugeben. Sind solche Bestrebungen nicht sittlich im höchsten Maße und tragen sie — in so graziöser und geistreicher Form geboten — nicht zur Selbsterkenntnis der Menschheit bei?«

Th. A. Sprüngli (Düsseldorf): ».. Erste Aufgabe der Regie muß es also heute sein, die zeitlose, d. h. die jederzeit wirksame Parodie zu unterstreichen… Dabei tritt die Gegenwart mit ihren vielen Karikaturmöglichkeiten in unser Gesichtsfeld. Offenbach braucht in keiner Weise Gewalt zu geschehen. Gerade die Zeit des dritten Napoleon hat in ihrem Charakter Ähnlichkeit mit den verworrenen Begriffen und Ereignissen unserer Tage, besonders insofern, als diejenigen, die heute den wirtschaftlichen, politischen und künstlerischen Kurs bei uns bestimmen, ebensowenig Bewunderung zu erwecken vermögen, wie die Staatsmänner und Kunstführer um Napoleon herum es konnten. Diese Ähnlichkeit muß besonders in der lustigen Autoritätsverhöhnung … zum Ausdruck gebracht werden. — — Wie stets das Lächerlichmachen, wenn es mit Geist geschieht, ein besseres Mittel ist, Gegner zu töten, als die grobe Handgranate.«

Aus dem Annoncenteil der Arbeiter-Zeitung

11. Mai:

Die Unüberwindlichen

Nachkriegsdrama von Karl Kraus. Drittes Tausend. Neuauflage in Vorbereitung

Die Dresdener Uraufführung 5. Mai 1929 und die Unterdrückung des drittes Aktes durch Herrn Castiglioni

(welcher die Gestalt Schobers persönlicher hervortreten ließ)

wurden von der gesamten bürgerlichen Presse Wiens totgeschwiegen. Zu beziehen durch den Verlag der »Fackel« und alle Buchhandlungen. 1061

23. Mai:

KARL KRAUS

Die letzten Tage der Menschheit.

Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, 828 Seiten. Preis broschiert S 9·—, Ganzleinen S 12·—. 23. Tausend.

Zu beziehen durch die Buchhandlung Richard Lányi, I. Kärntnerstraße 44.

Volksausgabe in Vorbereitung

Urteile aus sozialistischen Kreisen:

— — Hier fand die sittliche Empörung gegen die Kriegsbarbarei ihren leidenschaftlichsten Ausdruck und die Gewalt der Empfindung vermählte sich mit der Gewalt der Form, so den Geist zur Tat gestaltend.

Karl Seitz, 1. Mai 1919.

— — Wir haben Ihnen für Ihren mit sittlichster Leidenschaft geführten Krieg gegen den Krieg zu danken, dessen Unmenschlichkeit Sie in Ihrer unsterblichen Tragödie so geschildert haben, daß die Menschheit es nie vergessen kann.

Karl Seitz, 28. April 1924.

Die Auflehnung eines nicht geringen Teiles der deutschösterreichischen Intelligenz gegen die Schrecken und den Schmutz des Krieges hatte in den letzten Kriegsjahren und in der Zeit des Umsturzes in einer Reihe von Dichtungen ihren Ausdruck gefunden. Hoch ragt aus ihnen Karl Kraus’ Dichtung »Die letzten Tage der Menschheit« hervor, in ihrer grauenvollen Wahrheit und Fülle das gewaltigste Denkmal des Krieges.

Otto Bauer, »Die österreichische Revolution«, 1923.

— — Welch ein Buch, »Die letzten Tage der Menschheit«! Was sind all die braven Antikriegsbücher gegen das höllische Feuer, das hier brennt, gegen diese Riesendichtung, in der alles eingefangen ist, was den Krieg begleitet hat — —! Wo gibt es in der zeitgenössischen Literatur etwas, das diesem fünften Akt vergleichbar wäre — —! Und trotz seiner zyklopischen Ungefügigkeit ist dieses Schreckensgemälde doch immer ein großes Kunstwerk! Man reiche ihm den Preis!

»Arbeiter-Zeitung«, 27. April 1924.

— — (Wir möchten hier bemerken, daß die Nobel-Stiftung in den »Letzten Tagen der Menschheit« von Karl Kraus ein Werk vor sich sehen könnte, das des Literatur-, wie des Friedenspreises würdig wäre. Red.)

»Arbeiter-Zeitung«, 8. Dezember 1925.

Es gibt ein Buch, das wurde im Krieg berühmt: »Das Feuer« von Barbusse. Das war ein Schrei aus dem Schützengraben, keine künstlerische Leistung, sondern eine befreiende Tat, die erste, die einzige — —

Dann lange nichts. Wollte die Welt den Krieg vergessen? … Erst jetzt, zehn Jahre nach Kriegsende, erscheinen wieder Kriegsbücher. — — —

Eine Zwischenbemerkung: Es gibt kein österreichisches Kriegsbuch, das diesen vergleichbar wäre. — —
— — Von den Menschen aber, die im Kriege waren, haben ihn die meisten schon vergessen: ein wohltuender Schutz für den einzelnen, der das Gräßliche loswerden will, ein Danaergeschenk für die Menschheit, die lebt, um zu vergessen, vergißt, um zu leben. — —

Oskar Pollak, »Der Kampf«, Mai 1929.

Wir machen unsere Leser ganz besonders darauf aufmerksam. 1187

28. Mai:

Zu beziehen durch die Buchhandlung Richard Lányi, I. Kärntnerstraße 44.

Die Fackel Nr. 810

Nach dreißig Jahren.

Gesprochen in der 500. Vorlesung.

Beide Gedenktage wurden von der gesamten bürgerlichen Presse totgeschwiegen.

Aus der »Arbeiter-Zeitung« vom 27. April 1924.

Am 1. April waren es fünfundzwanzig Jahre, seitdem seine weit- und hochberühmte »Fackel« erscheint, und in diesem Monat hat er auch die dreihundertste seiner Vorlesungen gehalten, von denen jede ein künstlerisches Ereignis war. Also wohl Grund genug, damit sich das geistige Wien zur Huldigung vereine? Denn daß Karl Kraus der Schriftsteller eigensten Gepräges ist, den Wien besitzt, können heute auch die nicht bestreiten, die dem Genie die Ehrerbietung, auf die es Anspruch hat, in der Form eines unauslöschlichen Hasses entgegenbringen; also sollte wohl der Anlaß mit Begierde ergriffen werden, um für eine Leistung, die Geist und Tat ist, Dank zu sagen. Aber in dieser Stadt, wo jeder zur rechten Zeit sein reichlich Maß von Lob und Anerkennung erntet, wird es stille sein, wenn es Karl Kraus zu feiern gilt; das geistige Wien wird sich höchst ungeistig aufführen, wenn es sich als geistig bewähren soll. Gehört aber das Verschweigen, das Karl Kraus seit einem Vierteljahrhundert widerfährt, nicht gleichfalls zu seinem Ruhme? Hat er sich nicht insbesondere die Ungunst der Presse rechtschaffen verdient? Und ist es nicht ein großes Verdienst, immer im Kampfe mit der seelentötenden Maschinerie, als die sich der moderne Zeitungsbetrieb darstellt, gestanden zu sein, ihr niemals auch nur die geringste Konzession gemacht zu haben? Wovon selbst die stärksten Geister nicht frei sind: dem Bedürfnis, sich mit den Zeitungen, die erhöhen können und zu erniedrigen vermögen, zu vertragen, das hat Karl Kraus in stolzer Unnahbarkeit immer verschmäht. Er hat nie eine Meinung unterdrückt, nie auch den Ausdruck der Geringschätzung und Verachtung gemildert, und mit Schopenhauer kann er sagen: »Überhaupt, wo ist eine Eitelkeit, die ich nicht gekränkt hätte? Man dient nicht der Welt und der Wahrheit zugleich.« Und wie triumphiert er nun über das bewußte und planmäßige Totschweigen, das ihm gegenüber geradezu das Gesetz der Wiener Presse ist? In ihrer papierenen Welt erscheint er nicht, aber alle, die Achtung vor geistiger Größe fühlen, wissen, was sie ihm schulden; sie glauben, ihn zu Tode ge- schwiegen zu haben, aber er wird immer lebendiger, sein Wirken immer tiefer; denn längst hat er den Wiener Umkreis überschritten und ist ein großer Besitz des gesamten deutschen Schrifttums geworden. Mehr als dies: das Einzigartige seiner schriftstellerischen Persönlichkeit, in der sich höchste Begabung mit Treue des Charakters eint, macht ihn geradezu zum Wertmesser der Literaten: ob sie echt und wahr, oberflächlich und verlogen sind, das erkennt man daran, wie sie zu Karl Kraus stehen. 1252

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