509. Vorlesung am 05.06.1929

Wien
05.06.1929

[Karl Kraus las im Architektenvereinssaal am 5. Juni]

Offenbach-Zyklus (Zum 110. Geburtstag), Theater der Dichtung

Die Briganten.

Begleitung: Georg Knepler.

[Die Fackel 811-819, 08.1929, 64] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

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Die Briganten

Operette in drei Akten von Offenbach

Text von Meihac und Halévy, nach der Übersetzung von Richard Genée erneuert von Karl Kraus

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Mit neuen Zeitstrophen

Ein Teil des Ertrages fällt der Steuerbehörde zu, da für die durch die Jahre wohltätigen Zwecken gewidmeten Erträgnisse nachträglich Steuer gezahlt werden muß.

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[Zeichnung »Le choeur des dragons« par A. Grévin aus dem Journal Amusant 1874]

In Prag und in Teplitz-Schönau hat kürzlich die Vorlesung der »Briganten« um eine halbe Stunde länger als sonst gedauert, weil die Hörer fast nach jedem Satz des Polizeipräsidenten Bramarbasso-Connivente, der dort auch durch den stets wiederholten Vortrag des Schober-Liedes populär ist, ihrem ver- blüffenden Verständnis für die Eigenart dieses Geistes stürmisch jubelnden Ausdruck gaben. Der Vortragende ist voll Lobes für die seitens dieses Auditoriums entfaltete Tätigkeit, wie die bürgerliche und sozialdemokratische Presse Prags (die ihm gegenüber gleichfalls vereinigt sind) für den Vortrag, und das Verständnis für die diesbezügliche Materie spricht sich wie folgt aus:

‚Prager Tagblatt‘, 30. Mai:

Vorlesungen von Karl Kraus. — — — — daher die aufpeitschende Kraft, die dem geschriebenen und, noch unmittelbarer, dem gesprochenen Wort von Karl Kraus entströmt. Sie bleibt ihm auch dann treu, wenn er sich durch fremdes Werk verkündet, wie sich dies am zweiten Abend an der Wiedergabe von Offenbachs »Briganten« erwies. Es ist allein schon erstaunlich, wie K., unterstützt durch den vorzüglichen Klavierbegleiter Georg Knepler, die Vorführung einer klassischen Operette deklamatorisch, gesanglich und mimisch gewissermaßen mit einem Mund und mit zwei zu sparsamer Bewegung ausholenden Händen bestreitet. Die dreieinhalbstündige Produktion wäre allerdings unmöglich, wenn nicht auch eine Kleinigkeit, auf die manche Bühnenaufführung verzichten zu können glaubt, nämlich Geist, an ihr beteiligt wäre, die dem musikalischen Laien K. zu Wirkungen verhilft, welche manchem Fachmann versagt bleiben. Der Genuß der Offenbachschen Melodienfülle wird gesteigert durch die schöpferische Freude, die der Rezitator an dem Werk empfindet und die er dem Hörer mitteilt. Es sprudeln hier drei Lustquellen: die Operette selbst, die Wiedergabe und die suggestive Kraft, womit der Vortragende von dem Wert des Stückes überzeugen will. Freilich, es sind nicht nur die alten Textverfasser Meilhac und Halévy, die diesem »Briganten« ihre Worte in den Mund gelegt haben. K. hat den Text nicht bloß erneuert, er hat das Stück in den Bereich unserer Zeit und in sein eigenes Kampffeld gerückt. Wenn er die Operette vorträgt, verwandeln sich die Briganten, beinahe selbstverständlich, in eine wohlbekannte Wiener Erpresserschar und nimmt der Polizeipräfekt von Navarra österreichische Züge an. Es bedürfte nicht einmal der unmißverständlichen Zeitstrophen, um diese Identität erkennen zu lassen. So ergibt sich aus der Zweiheit Offenbach-Kraus, aus dem erfinderischen Reichtum des Komponisten, der in lyrischer Anmut schwebenden Wiedergabe, aus melodisiertem und künstlerisch zusammenfassendem Geist eine Kunstleistung, die auch hier dem werbenden Enthusiasmus Kraus’ begeisterten Dank eintrug. st.

‚Sozialdemokrat‘, 30. Mai:

Theater der Dichtung.

Vorlesung Karl Kraus: Die Briganten.

Das Theater der Dichtung, Karl Kraus’ einzigartiges Werk der Bewahrung und Erneuerung edelster Schätze der dramatischen Dichtung, dient seit Jahren der Erweckung Offenbachs aus der Vergessenheit, in die er notwendig geraten mußte, als die Zeit und ihr Kulturmarkt sich Sphären zuwandten, die Geist und Musik Offenbachs so wenig vertragen, wie diese mit jenen sich zum Gleichklang des Repertoires fügen könnten. Es zeigt sich schon heute, daß die Buchmacher des Theatergeschäfts, Okkasion in Offenbach witternd, in der nächsten Zeit versuchen werden, auch an der Offenbach-Renaissance zu schmarotzen, wie sie nach der Erweckung Nestroys durch das Wort Karl Kraus’ nicht müde wurden, sich mit unverstandenem Bühnengut einen Jux zu machen. Und die Gewißheit dieses Raubzuges vermag der holden Lust fast Eintrag zu tun, die das Theater der Dichtung auf Tausende überströmt. Daß die Kulturfaktoren dieses totschweigen, ist nur ziemlich; daß sie es beerben wollen (nicht geistig, sondern in dem einzigen Sinne der Erbschaft, der ihnen geläufig ist), empört und sollte in jedem einzelnen Falle, in dem kein Kerr noch den literarischen Diebstahl merken wollte, angeprangert werden.

Der lebendigsten Szene gegenüber, die heute denkbar ist, im Angesicht Karl Kraus’ schwinden freilich auch diese schmerzlichen Bedenken und das bittere Gefühl, daß in dieser Zeit kein Genuß ungeschmälert uns zuteil wird, und wir sind ganz dem Erlebnis hingegeben. Auf Stunden erlöst von aller Schwere und in die Region wahrer Dichtung erhoben, in der das Leben zum phantastischen Schein wird und tieferer Logik gehorcht, vergessen wir den gemeinen Tag, der desto ferner entschwindet, je plastischer sein Bild auf diesem Theater ersteht. Vergessen ist auch der Trug der technischen Regie, die uns Pappe für Leben gab, weil aus dem Wort und dem Klang unmittelbar das Zauberreich erblüht, in dem nun die Briganten und die Polizei, Plagegeister des Lebens, in dem sie dominieren, als die Geschöpfe der dichterischen Phantasie ihr Spiel treiben zu dem Ende, das sein soll, nicht zu dem, das unten in der stümperhaften Realität ist. Hier wird der Brigant Polizeipräsident, hier war es längst vorgeahnt, was wir schaudernd erlebten, aber es war überwunden; denn die Würdenträger und Machthaber, die in dieser Zeit und dieser Welt eben die Unüberwindlichen sind, werden in der andern des Dichters als Schemen und Phantasmagorien, die ein unsterblicher Schöpfergeist beschwor, in die eigene Absurdität aufgelöst.

Zu berichten, wie Karl Kraus das Wunder vollbringt, wie sich in einer Stimme der unerhört süße Klang der Fiorella-Arie (»So wird Fiorella immer des Räubers echte Tochter sein«) in das tonlos hohle Pathos des Polizeipräsidenten (»Respekt, jetzt kommt Polizei«), oder in den Brigantenchor »Die großen Stiefel, sie trappen, sie trappen …« wandelt, wie durch Stunden Wort um Wort sich das Geheimnis offenbart, wäre vergebenes Vorhaben und vermessener Versuch. — — E. F.

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