Karl Kraus ca. Alfred Kerr

Berlin
03.01.1927 – 04.05.1928

[68.] Alfred Kerr hatte im Dezember 1926 Karl Kraus im Berliner Tageblatt als "kleine(n) mieße(n) Verleumder mit moraligem Kitschton" bezeichnet. Oskar Samek und Karl Kraus wollten auf Basis dieses Artikels den deutschen Rechtsweg beschreiten und in Berlin eine Ehrenbeleidigungsklage gegen Alfred Kerr einbringen. In Berlin wurde Justizrat Viktor Fraenkl als Kraus' deutscher Rechtsvertreter engagiert. Bevor die Klage eingebracht wurde, beriet sich Oskar Samek ausführlich mit Victor Fraenkl, um Alfred Kerr nicht die Möglichkeit zu geben, Widerklage einzureichen. Schließlich hatte auch Kraus oft gegen Alfred Kerr polemisiert. Kerrs Rechtsanwälte beantragten etwa, die Eröffnung des Hauptverfahrens abzulehnen, da Kraus eben bereits ausführlich gegen Kerr polemisiert habe. Ihr Mandant hätte dies ebenso einklagen können. Zudem wurde betont, dass Kerr von Kraus' Anwürfen erst sehr spät erfahren und dadurch sein Artikel aus dem Dezember 1926 quasi eine "direkte Erwiderung" auf Kraus' Beleidigungen sei. Weiters wurde versucht darzulegen, dass Kerr den Ausdruck "Verleumder" nicht im Sinne des § 185 St. G. B. benutzt habe, sondern lediglich als "übliche Bezeichnung für bösartige Beleidigungen". Schließlich sei es einfach unwahr, dass Kerr ein "Kriegshetzer" sei, wie Kraus behauptete, und keinesfalls habe er alle unter dem Pseudonym "Gottlieb" veröffentlichten, kriegshetzerischen Gedichte zu verantworten (68.10). In der folgenden Fackel 759/765 allerdings bezeichnete Kraus Kerrs Kritiken als "Fürze" und ihn selbst als "Mosses Eintänzerich". Aufgrund dieser Äusserungen konnte Kerr nun jene Widerklage einbringen, die vorher durch Eintritt der Pressverjährung nicht möglich gewesen war (68.44: "Ich muss ihm auf diesen nicht literarischen Wege folgen"). Auch dass die Beleidigung Kerrs im Ausland (Österreich) stattgefunden habe, konnte nicht geltend gemacht werden, da die Fackel auch in Deutschland vertrieben wurde. Kraus trat nun den Wahrheitsbeweis für seine Äußerungen gegen Kerr in einem Schriftsatz (68.61) an, der 75 Seiten umfasste. Oskar Samek bat Fraenkl in Berlin um Geduld und kündigte an, dass der Schriftsatz sehr umfangreich sein werde, "da es notwenig erscheint, auf sämtliche Behauptungen des Herrn Kerr einzugehen und insbesondere genau darzustellen, wie er durch falsche Zitierung und durch Einhaltung der verleumderischen Methode, die er Herrn Kraus zum Vorwurf macht und durch Erweckung patriotischer Gefühle ein falsches Bild beim Gerichte hervorrufen will. Die Angelegenheit Kerr wird in diesem Schriftsatz erschöpfend und vernichtend für Kerr dargestellt werden." (68.57). Kerr antwortete wiederum mit einem 30 Seiten umfassenden Schriftsatz (68.74). Beiden Kontrahenten gingen in ihren Anklagen 31 Jahre zurück. Anfang Februar 1928 einigten sich die Anwälte schließlich auf einen Vergleich - Klage und Widerklage wurden zurückgenommen und die Kosten geteilt. Kraus' Freund Sigismund von Radecki, der dem Prozess in Berlin beiwohnte, berichtete Kraus in Folge von den sehr negativen Eindrücken, die er von der Verhandlung hatte: Fraenkl sei sehr schlecht, unsicher und nicht überzeugend gewesen und habe dem gegenerischen Anwalt gewissermaßen die Bühne überlassen. Dieser habe - unter Verweis auf die enorme Papierverschwendung - die Sache als das "übliche Literatengezänk" abgetan. Die Justiz habe wichtigere Dinge zu tun. "Man hatte den Eindruck, daß beide Rechtsanwälte heilfroh sein würden, wenn sie die Sache, die ihnen wohl über den Kopf wuchs, endlich los wären!" (68.77). Samek teilte Fraenkl daraufhin mit, "dass der vorläufige Ausgang des Prozesses Herrn Kraus nicht befriedigt hat" - es handle sich um eine "kulturpolitische Angelegenheit", deren Wichtigkeit Fraenkl als Leser der Fackel "gewiss ermessen" könne (68.84). Kraus, über den Ausgang enttäuscht, setzte seinen kulturpolitischen Kampf fort. Fraenkl wurde als Anwalt künftig nicht mehr konsultiert.