Rezension der Deutschen Montagszeitung

Er war in Berlin. Viel werdet ihr davon nicht gemerkt haben, Zeitungsleser, denn dieser Landsmann Roda Rodas ist so wenig Gesinnungsgenosse solcher Lustigkeit, daß ihn die Presse nicht ernst nimmt und ihm seine Existenz im geistigen Deutschland am liebsten abschweigt. [...] Aber er war wirklich in Berlin, ich nehme das auf meinen Eid; ich und noch ein paar Hundert andere haben am Dienstag im Choralionsaale seiner Leiblichkeit und der Emanation seines Geistes beigewohnt, welche dem Felsen entronnen waren.

Der Choralionsaal ist an sich ruhiges Appartement, und nie hätte ich geglaubt, daß es einem Dämon durch das Ausstoßen von Wortdämpfen gelingen würde, seine Wände ganz zu Asche zu brennen und uns für zwei Stunden mit einer Umfriedung von Urwäldern, Sternen, und weiter, weiter Weltennachtluft zu umgeben. Das, glaubte ich, könnten höchstens Romantiker. Hie tut es einer, der nur rasender Hetzjäger von Gedankenketten ist .... quer und wild durch antithetische Gräben jagend, eine Klimax wie eine Barriere nehmend, an einsamen Türmen vorbei, die wie Anakoluthe in den Himmel stechen [...].

Im Siècle der Marquis und Vicomtes unternahm man keine Vortragsreisen: so aber und nicht anders muß vor dem verdunkelten Parkett des spirituellen Frankreich das Antlitz des Voltaire ausgesehen haben, wechselnd in Stirn und Mund wie ein Mönch, ein Knabe, ein Cäsar auf dem Thron und ein Catilina am Galgen [...].

Seine Themen, seine Anlässe?

Eine Prostituierte hat ihr erhurtes Vermögen .... der Wiener Rettungsgesellschaft vermacht, aber ihren Lieblingswunsch, einen ehrlichen Grabstein zu besitzen, in’s Testament einzubedingen vergessen. Die Rettungsgesellschaft ist nicht gezwungen, ihre Wohltäterin zu ehren, aber ihre Kolleginnen werden schon — »Halt!« schreit das Kulturgewissen Karl Kraus und eine Geste, die genügen sollte (meint man) einem Weltrad in die Speichen zu fallen, unterstreicht diesen Schrei. Er gliedert sich in der Retorte eines unnahbaren Stils zu einer Variation, die mit steinerner Wucht an alle Türen Wiens zu klopfen scheint. Der Erfolg: ich möchte nicht Mitglied der Rettungsgesellschaft sein. Weder in Albträumen noch im Leben. Ihr etwa?

Oder: Ein armes Bordellweib in Wiener-Neustadt hat statt des Schandlohns von einem noblen Gaste ein Militär-Verdienst-Ehrenkreuz erhalten, aber durch das Tragen des Abzeichens im Bordell Ärgernis erregt und wird zu zwanzig Kronen Geldstrafe verurteilt. Auf dem blutigen Witz balanzierend, daß das Mädchen die zwanzig Kronen, die es von dem fremden Kerl nicht erhalten, dem Staat zurückliefern muß, bestrahlt Kraus mit seiner Blendlaterne das Wesen eines Militär-Verdienst- Ehrenkreuzes, dieses hier Verderben stiftenden Kotillonscherzes staatsbürgerlicher Tugend. Erfolg: ich möchte kein Militär-Verdienst-Ehrenkreuz besitzen. Weder im Leben noch in Albträumen. Ihr etwa?

Oder: in Amerika ermordet ein Chinamann ein weißes Mädchen — und es gibt bei Kraus eine gellende Stretta auf der sexuellen Angst-Saite, daß in allen Häusern Europas die Ehen schlottern und schließlich die ganze abendländische Kultur .... als Leiche in dem großen Koffer des fletschend gelben Barbaren verschwindet.

Oder: — aber lest selbst.

Die giftigen Heilbäume, die Karl Kraus in den Garten dieser Zeit gepflanzt hat, heißen: Sprüche und Widersprüche, Sittlichkeit und Kriminalität, Die chinesische Mauer, Pro domo et mundo, Heine und die Folgen.

[Deutsche Montagszeitung,  16.12.1912, zitiert in: Die Fackel 366-367, 11.01.1913, 34-35] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

 

Datum: 
16.12.1912