Rezension des Prager Tagblatt

.... Es kann nicht schaden, wenn in einer Zeit, die aus Mangel an eigener Schöpferkraft allzu Vieles konserviert und »rettet«, einer auftritt, der den Mut hat, traditionelle Werte umzustoßen; Ungerechtigkeiten, die dabei unvermeidlich sind, korrigieren sich rasch und das Positive einer solchen Tat, wenn sie von einem Kraftvollen geleistet wird, tröstet über die Mißverständnisse, die sie bei einem philiströsen Publikum hervorrufen könnte. Für Philister aber ist Kraus’ Vorstoß gegen Heine nicht geschrieben; nicht für Leute, die sich einen Angriff auf Heine nur unter konfessioneller Flagge vorstellen können und nicht einsehen, daß ein reingeistiger Radikalismus zufällig dieselbe Tendenz haben kann wie kulturelle Rückständigkeit. Freilich: diese Heine-Polemik wird man nur genießen können, wenn man zuvor dem Verfasser verziehen hat, daß sein Eifer in Fanatismus umschlägt; daß er Heine oft nur um der »Folgen« willen züchtigt; daß er, der das literarisch Angreifbare im Auge hat, gelegentlich nur menschlich Anfechtbares aufjagt. Aber es hat kaum je eine Kritik — und wohl niemals eine aus gereizten Nerven sprühende Kritik — gegeben, die ganz gerecht gewesen wäre und die innere Notwendigkeit, ungerecht zu sein, wächst mit der überlieferten Unangreifbarkeit des Gegenstandes. So hat Mauthner, der Unhistorische, in seinem Buche gegen Aristoteles, fast wahnwitzig übers Ziel geschossen; so eifert Kraus oft, wenn er Heines Namen ausspricht, gegen den Sprachrationalismus, der das Feuilleton beherrscht, gegen die Mechanisierung des Geistes und Witzes. Aber wenn in dieser Schrift allein ein Satz stünde wie der: »Wie eigene Gedanken nicht immer neu sein müssen, so kann, wer einen neuen Gedanken hat, ihn leicht von einem andern haben,« so verdiente sie es, hundert Verherrlichungen Heines zu überdauern. Hier, in dem Glauben an die »Präformiertheit der Gedanken«, in der Überzeugung, »daß der schöpferische Mensch nur ein erwähltes Gefäß ist und darin, daß die Gedanken und die Gedichte da waren vor den Dichtern und Denkern«, offenbart sich eine Ehrfurcht vor dem Unsagbaren künstlerischen Schaffens, welche die Bedenken vor dem Spezialfall verstummen läßt und auch den, der Heine ehrt, mit einem Gegner versöhnen muß, dessen Stimmung im letzten Grunde so mystisch-keusch ist.

Aus ähnlicher, wenn auch nicht gleich tiefer Stimmung stammt Kraus’ Abneigung gegen Harden, die ihren literarischen Ausdruck in den nüchternen Übersetzungen aus Hardens »Desperanto« gefunden hat. Die witzigen Kleinigkeiten wirkten durch die heitere Kraft ihres Spottes ebenso wie eine Wiener Satire durch die zahllosen, sprachlich sehr feinen parodistischen Einfälle. Kraus fand wiederum die lebhafte Zustimmung einer zahlreichen Hörerschaft. st.

[Prager Tagblatt, 16.03.1911, zitiert in: Die Fackel 319-320, 31.03.1911, 64-65] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Signatur: 
L-137743
Datum: 
16.03.1911