Der Vorleser

Der Vorleser

1892/1910 - 1936

Rezension der Wage

Am Mittwoch veranstaltete Karl Kraus im kleinen Musikvereinssaal seine sechste Vorlesung in dieser Saison vor einem zahlreich erschienenen Publikum. Die erste Abteilung war Peter Altenberg gewidmet und brachte ein Anzahl der schönsten Skizzen aus seinem jüngsten Buche »Semmering 1912«. Kraus war ebenso bedeutend in der Herausarbeitung der lyrischen wie der komischen Elemente und hat »diese von Gott autorisierte Übersetzung des Menschen in die Sprache« mit allen Feinheiten seiner ungewöhnlichen Vortragskunst interpretiert.

Signatur: 
L-137743
AutorInnen: 

Erinnerung von Alban Berg

Zu den schönsten Abenden dieser Saison gehörte die letzte Krausvorlesung in der er außer fast allen Glossen der letzten Fackeln, den Neger, den Mord an der Prostituierten, den Biberpelz, einen Theil jener Briefe vorlas, die er im Lauf von 15 Jahren erhielt und die er in einer Auslese von 300 Stück (im ganzen sinds circa 30.000 meistens anonyme) in Buchform erscheinen lassen wird. Er las sie immer in solcher Reihenfolge, daß der Ausdruck niedrigster Schmähungen mit dem höchste Begeisterung wechselte. [...] Der kleine Musikvereinssaal war so voll wie ich ihn noch nie sah.

AutorInnen: 

Erinnerung von Salka Viertel

Der Saal war brechend voll, als wir dort eintrafen. Kraus kam aufs Podium, ein zerbrechlich wirkender, grauhaariger Mann; er wirkte leicht gebeugt, eine Schulter war etwas höher als die andere. Als er zu sprechen begann, überraschte die Kraft und die Klangfülle seiner Stimme, ihre hinreißende Modulationsfähigkeit, ihre unglaubliche Lebendigkeit. Er hatte ein klares, scharf geschnittenes Gesicht; das ausdrucksstarke Spiel seiner Hände fiel auf.

AutorInnen: