Der Vorleser

Der Vorleser

1892/1910 - 1936

Rezension der Neuen Züricher Zeitung

Karl Kraus rennt auf das Podium, und sofort schwirren Schwerter und Messer in der Luft. Auf welche Seite stellt er sich im Kriege? Welche Frage! Nicht auf die Seite aller Deutschsprechenden, aber auf die Seite der deutschen Sprache, die sich bei jedem Wort ihre Sache denkt. Höre man, wie er ohne die Zugabe eines eigenen Wortes etwa folgendes sagt: »Pater noster« heißt ein Liftaufzug, »Bethlehem« ist ein Ort in Amerika, in dem sich eine Munitionsfabrik befindet. Man hört es an wie eine Begriffsdämmerung.

Signatur: 
L-137743
AutorInnen: 

Erinnerung von Salka Viertel

Der Saal war brechend voll, als wir dort eintrafen. Kraus kam aufs Podium, ein zerbrechlich wirkender, grauhaariger Mann; er wirkte leicht gebeugt, eine Schulter war etwas höher als die andere. Als er zu sprechen begann, überraschte die Kraft und die Klangfülle seiner Stimme, ihre hinreißende Modulationsfähigkeit, ihre unglaubliche Lebendigkeit. Er hatte ein klares, scharf geschnittenes Gesicht; das ausdrucksstarke Spiel seiner Hände fiel auf.

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